Trajal Harrells Tanztheater am Schauspiel Zürich

2022-09-17 12:08:27 By : Mr. Majin Ma

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Schreckenstanz im Treppenhaus: Frances Chiaverini in „Das Haus von Bernarda Alba“ von Trajal Harrell Bild: Orpheas Emirzas

Tanz als existenzielles Erlebnis: Trajal Harrell inszeniert sein neues Stück „Das Haus von Bernarda Alba“ nach Federico García Lorca am Schauspiel Zürich.

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N eunundneunzig Zuschauer sitzen um die Tanzfläche herum, man muss die Füße einziehen, so nah kommen die Tänzer, kaum dass sie begonnen haben, sich selbst von ihrem kreisenden Vogue­ing-Tanz fortreißen lassen. Es ist ein geschlossenes, hinter dem Eisernen Vorhang aufgebautes Bühnenbild, in das man überraschenderweise im Schauspiel Zürich geführt wird: Ein heller, elegant- altmodischer Raum, durch dessen mit einem weißen Raffrollo verhängtes The­a­terfenster das Scheinwerferlicht fällt, als schiene draußen die Nachmittagssonne auf die Pariser Trottoirs. Glastüren ermöglichen verschiedene Auf- und Ab­gänge. Eine weich ausgeschlagene Treppe führt am Fenster vorbei zu uns hi­nunter in den wandgetäfelten Salon, auch über ihre Stufen treten die Tänzer auf diese Spielfläche zwischen uns – geräuschlos, denn der dicke, weiche, mauvefarbene Teppich, auf dem zumeist mit Socken oder barfuß getanzt wird, schluckt jedes Geräusch.

Das Publikum sitzt auf brokatbezogenen Fauteuils und fühlt sich nicht lange behaglich in diesem so komfortabel wirkenden Setting. „Das Haus von Bernarda Alba“ nennt Harrell seine Version des 1936 vollendeten grausamen Stücks von Federico García Lorca. Die Tänzer des Ensembles kommen den Zuschauern dabei nicht nur physisch nahe, auch ihre Art zu spielen, zu tanzen, den Lebenshunger der fünf eingeschlossenen Töchter der Witwe Bernarda darzustellen, kriecht unter die Haut, ihre körperliche Gier, die unterdrückten Gefühle, das Entsetzen angesichts des gewaltsamen Todes in ihrer Mitte am Ende des Stücks.

Zwar ist der Raum ein vornehmer Raum, einem Modesalon Christian Diors aus den Vierzigerjahren nachempfunden. Da­mals führten die Modedesigner den Kun­dinnen in diesen intimen Interieurs die Haute Couture vor. Harrells Inszenierung beginnt denn auch, indem er seine Tänzer als „Helping Hands“ vorstellt und die Dreiteilung der Modeindustrie als eine der Unterhaltungsindustrie ähnliche spiegelt: Es gibt die Arbeiter in der Herstellung, die Performer, die die Modelle vorführen, und die Käuferinnen, die zuschauen. Harrell ist auch stets sein eigener Kostümbildner, er sagt, jede Probenarbeit an einem neuen Stück beginne damit, dass er seinem Ensemble die Kleider, die er gefunden, verändert, entworfen hat, anzieht oder ihnen umhängt, als wären sie bloß die Kleiderständer.

Es ist ein ganz neues Theater, das so entsteht: Es verführt durch die ungewöhnliche Schönheit der Kostüme, durch die Bewegungsbrillanz der durchgängig charismatischen Mitwirkenden, durch die hypnotisierende, manchmal dämonische, manchmal trauernde Stimmung. Ein kluges, reflektiertes Theater auch, das voller Bezüge ist auf die Ge­schichte des Tanzes, der schwarzen Subkulturen und weißen Rebellen, auf die Geschichte der Vergessenen und Aus­geschlossenen, der Protagonisten ge­­nau wie ihrer Ankleiderinnen.

Manchen Zuschauern geht die Intensität des Abends zu weit. Das kann man sehen, es spiegelt sich in den Gesichtern, Ablehnung in manchen oder nur Verschlossenheit, hinter der man sich verstecken kann. Andere lassen sich darauf ein, sind überrascht, eingenommen, schauen verwundert. Nicht wenigen steigen Tränen in die Augen. Es gehört zu Trajal Harrells Konzept dieses neuen Abends am Schauspielhaus Zü­rich, dass alle, Publikum und Performer, einander ins Gesicht schauen können, während die zehn Tänzer, unter ihnen der Choreograph, die Hitze und das Verstörende an ihrer Performance hoch- und runterfahren wie einen Thermostat.

Es gibt Minuten, wenn Trajal Harrell im schwarzen, engen Jerseykleid und mit schwarzen Kniestrümpfen sein Solo tanzt, in denen er seine Augäpfel nach oben rollt, bis die Iris unter den Lidern verschwindet und man nur noch das Wei­ße sieht. Der Schauspieler Max Krause macht, dass ihm während seiner Auftritte immer wieder lange Speichelfäden aus dem Mund rinnen. Alle diese unterschiedlichen Zustände des Entrücktseins sind sorgfältig hergestellt, jede Geste, jeder Gesichtsausdruck sind geplant und reproduzierbar. Und dennoch fragt man sich an mehreren Stellen beklommen, wie es das Ensemble überhaupt schafft, so nahe am Publikum solche intensiven Zustände herzustellen. Nach der Vorstellung darauf angesprochen, lacht Harrell und sagt, in der Tat wisse er auch selbst nicht ganz, wie sie das immer wieder hinkriegten. Diese ge­spielte, gesteuerte und doch reale körperliche Hingabe der Darsteller ist kon­stitutiv für die Wirkung seiner Arbeiten.

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In der zweiten Hälfte des Abends, wenn Giya Kanchelis Komposition „Time ... and Again“ für Klavier und Vi­o­line zu hören ist, sehen wir zu, wie die weiße Butoh-Schminke in ihren Gesichtern Risse bekommt und verwischt. Dass der japanische Ausdruckstanz, diese Re­bellion der Sechzigerjahre gegen das traditionelle Nô-Theater, einmal in etwas ganz Neues eingehen würde, als eine Praxis oder Technik des kontrollierten Außer-Sich-Geratens, das konnte niemand vorhersehen. Aber das ist Trajal Harrells immer wieder überraschender, packender Zugriff auf die Post­moderne und ihre Tanztraditionen.

Es ist nachgewiesen, wie die westlichen weißen Rebellen von asiatischen Theater- und Tanzformen lernten und deren Einflüsse benutzten. Nun holt diese Errungenschaften ein schwarzer Choreograph gleichsam in einer inklusiven Bewegung wieder hinein in seine Arbeit und ehrt die Urheber. Einst Getrenntes – nach sozialen Schichten, Hautfarben, Kontinenten – bringt Harrell zusammen, wie man es nicht für möglich gehalten hätte, wie es einem ganz unwahrscheinlich vorkommt, bevor man es gesehen hat. Dabei entsteht eine Theatererfahrung, die beinahe wie ein heilendes Ri­tual wirkt. In dem wundersamen Gelingen der Zusammenführung von allem und allen wird nicht zuletzt das Tröstende von Gemeinschaft erlebbar, etwas, das uns daran erinnert und fühlen lässt, worin wir alle gleich sind, dass nämlich am Leben zu sein bedeutet, einen Schritt vom Sterben entfernt zu sein.

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Tanz als existenzielles Erlebnis: Trajal Harrells neues Stück in Zürich

Worin wir alle gleich sind

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